Autorin: Mona Knorr.
Heute möchte ich einen Gedanken mit dir zu teilen, den ich seit einiger Zeit in meinem Kopf bewege. Denn ich schiele immer mal wieder mit einem Auge auf das, was sich im Bereich der nachhaltigen Mode tut (und auch beim Thema Crowdfunding für Kleidung). Dabei ist mir aufgefallen, dass momentan drei Themen sehr stark im Kommen sind:
- die Einbindung der Konsument:innen in das Design der Kleidungsstücke und/oder eine – ich nenne es mal – “Baukastenmaßanfertigung”, damit die Kleidung besser zu den Konsument:innen passt (Schnitt und Design).
- der Aufbau einer Community um Modelabels mit Austauschmöglichkeiten und zusätzlichen Angeboten, die über den Kleidungskauf hinaus gehen.
- die Vermeidung von Überproduktion und der Versuch, nur auf Bestellung zu fertigen.
Gedacht wird das ganze immer unter der Prämisse, dass ein Unternehmen Kleidung entwirft, fertigen lässt und an den/die Endkundin verkauft, d.h. nur die Rohstoffe zukauft. Es entstehen Plattformen zur Einbeziehung der Kundin:innen in den Designprozess, aufwendige Online-Tools, um die Kleidung stärker “auf Maß” anzufertigen, und immer ausgefeiltere Möglichkeiten, online eine Anprobe zu simulieren.
Gleichzeitig finden kleine Labels in Deutschland und Europa kaum noch Produktionsstätten mit Fachpersonal. Sie müssen die Kollektionen komplett vorfinanzieren und Mindestabnahmemengen für Stoffe erreichen. Auch deshalb gibt es immer wieder Versuche, mittels Crowdfunding eine Vorfinanzierung und Vorbestellung von Kleidung umzusetzen – mit mäßigem Erfolg. Denn: Ich als Unterstützerin einer solchen Kampagne kann die Kleidung im Vorfeld nicht anprobieren, aber eine Rücksendung der Gegenleistung macht das ganze Konzept der “Produktion auf Vorbestellung” natürlich unwirksam und die Kalkulation des Projektes hinfällig.
Gleichzeitig boomt der Hobbynähmarkt. Immer mehr Schnittmuster kommen auf den Markt, dazu Nähkurse, Online-Tutorials und auch das Stoffangebot ist – gefühlt – in den letzten 10 Jahren explodiert. Schnittmuster ermöglichen geübten Näher:innen, genau DIE Kleidungsstücke nähen zu können, die benötigt werden, gefallen, dem eigenen Stil entsprechen – und passen.
Ich hab mich gefragt: Was wäre eigentlich, wenn ich Kleidung nicht mehr von global agierenden Modefirmen in Onlineshops und im Einzelhandel kaufen würde, sondern ich die Fertigung bei meiner gemeinschaftsgetragenen Schneiderin um die Ecke in Auftrag geben würde?
Und wenn ich dabei nicht auf modische und aktuelle Schnitte und Designs verzichten müsste, weil ich die Schnittmuster – wie jetzt schon im Hobbybereich – einfach online kaufen und meiner Schneiderin mitbringen kann, die sie dann bei der Fertigung noch ein wenig auf meine Körperform anpasst?
Das Pionier-Projekt SolHaWe Textil
In Herzberg im Harz gibt es bereits einen ersten Praxisversuch einer solchen gemeinschaftsgetragenen Schneiderin. Hier hat eine Gruppe engagierter Herzberger:innen die Gunst der Stunde genutzt, und der neu zugezogenen Schneidermeisterin Dorota ein festes Einkommen und damit unternehmerische Sicherheit gewährt, indem sie das SolHaWe-Textil nach Vorbild der Solidarischen Landwirtschaft gegründet haben. [Einen schönen Artikel über das SolHaWe Textil findest du online in der OYA]. Die Schneiderin berät die Mitglieder bezüglich Stoffauswahl und Schnitten und fertigt die Kleidung anschließend an. Außerdem tauschen sich die Mitglieder regelmäßig untereinander aus, teilen Ideen – und wertschätzen die Kleidung ganz anders, als die Ware aus dem Kaufhaus.
Kleidung lokal von einer Schneider:in anfertigen zu lassen, wäre eine prima Lösung für die oben genannten Herausforderungen:
- Produktion nur auf Bestellung – keine Überproduktion, keine Lagerung, keine Transportkosten, keine nichtverkauften Stücke, keine Retouren.
- Das Kleidungsstück passt, weil es extra für mich angefertigt wurde (eine entsprechende Fertigung vorausgesetzt).
- Ich kann Schnitt, Farbe, Material selbst wählen und so genau das tragen, was ich möchte.
- Ich kann die Kleidung anpassen lassen, wenn sie mir nicht mehr passt oder gefällt.
- Ich habe eine Gemeinschaft, mit der ich mich austauschen kann, und in der auch andere Dinge stattfinden (z.B. Kleidertausch, gemeinsames Reparieren usw.)
Gemeinschaftsgetragen heißt, die Verbraucher:innen gehen mit in die unternehmerische Verantwortung
Ist diese Schneider:in gemeinschaftsgetragen, geht die Verbraucher:innengruppe mit in die unternehmerische Verantwortung. Das Einkommen der Schneider:in schwankt nicht je nach Auftragslage, sondern ist stabil, weil die Beiträge der Mitglieder die Betriebskosten finanzieren. Die Mitglieder teilen sich – wie in meinem Artikel über die Grafikdesignerin – die verfügbare Arbeitszeit der Schneider:in untereinander auf und kaufen Material* und Schnitt selbst. Meine Vermutung ist, dass folgendes eintreten wird:
- ein Kleidungsstück anfertigen zu lassen setzt voraus, dass ich mich damit auseinandergesetzt habe, dass ich es benötige, d.h. Impulskäufe werden vermieden.
- ich bekomme ein Kleidungsstück, das mir garantiert passt, und das ich ändern lassen kann, wenn es nicht mehr passt. Es gibt weniger Schrankleichen.
- ich kann sehr viel mitbestimmen – die Chance, dass aus so einem Teil ein Lieblingsstück wird, ist sehr viel höher, und damit benötige ich seltener neue Kleidung.
- ich kann Material nutzen, das schon da ist z.B. von anderen Kleidungsstücken, aber auch Meterware vom Flohmarkt, aus dem eigenen Vorrat, von Haushaltstextilien usw.
Und: Es gibt definitiv viele Menschen, die gerne nähen. Aber die wenigsten können damit heutzutage noch ihren Lebensunterhalt verdienen. Wie toll wäre es, wenn das wieder möglich wäre?
*Das Material, also die Stoffe, habe ich in diesem Artikel einmal ausgeklammert. Auch hier wäre es schön, zumindest bei den “Basisstoffen” langfristig auch auf gemeinschaftsgetragene Lösungen zu kommen – möglicherweise analog zu Teikei Kaffee auch zu internationalen gemeinschaftsgetragenen Lösungen.
[Der Artikel erschien zuerst auf dem mittlerweile aufgelösten Blog communitysupported.org und wurde im Juli 2021 auf diesen Blog übertragen.]